Ein Museum für das 20. Jahrhundert: „berlin modern“
Aus der Vielzahl unterschiedlichster Ansätze für den Erweiterungsbau eines Museums für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts – zu planen mit einem Kostenrahmen von 200 Millionen Euro - wurde der Wettbewerbsentwurf von Herzog & de Meuron (H&M) am 26. Oktober 2016 in einem einstufigen Verfahren ausgewählt. Leider erfolgte in einer zweiten Phase keine Aufforderung an die Erstplatzierten, vor einer finalen Entscheidung eine Präzisierung der Entwürfe vorzulegen. Ein symbolischer Spatenstich für den Bau von H&M erfolgte im Dezember 2019 – damit wurde vertragsgemäß die Schenkung der Sammlung Pietzsch für die Nationalgalerie gesichert - und seit Frühjahr 2021 wird im Kulturform gebaggert. Mit der nun im April 2023 von der neuen Kulturstaatsministerin und dem Präsidenten des Bundesumweltamts vorgestellten Überarbeitung beläuft sich die Bausumme bereits auf ca. 500 Millionen Euro (geplante Fertigstellung ca. 2028). Zum Vergleich: die komplette, mustergültige Renovierung (inkl. unterirdische Erweiterung) der Neuen Nationalgalerie von Mies van der Rohe durch das Architekturbüro Chipperfield war mit 100 Millionen geplant und kostete dann 140 Millionen. Die Intentionen des geplanten Museumsneubaus von Herzog & de Meuron neben der Neuen Nationalgalerie sind folgende:
„Die Fassade wurde zu allen vier Seiten hin geöffnet und untergliedert. Dadurch werden Zugänge und Blickbezüge ins Innere geschaffen und das Museum verbindet sich mit dem umgebenden Stadtraum.“ „Zwei sich kreuzende Boulevards bilden das Herzstück des Museums im Inneren. Sie laden die Besucherinnen und Besucher ein, sich an diesem Ort zu treffen, zu verweilen und gemeinsam Kunst anzusehen.“ „Die textile Qualität der Fassaden soll sich über das Dach hinweg erstrecken. Damit wird der Eindruck eines einheitlichen Gebäudekörpers verstärkt. Die beiden sich kreuzenden Boulevards verbinden die weiteren Einrichtungen am Kulturforum miteinander, zum Beispiel die Staatsbibliothek zu Berlin, die Gemäldegalerie oder die Philharmonie.“ (zit. siehe https://www.nationalgalerie20.de/entwurfsansichten)
Auf dem Bauzaun um die große Baugrube (mit dem aktuellen Slogan „Wir sind offen“) werden die obigen Ausführungen visualisiert (s. Abb. unten). Das „Rendering eines archetypischen großen Hauses im urbanen Raum“ (O-Ton zum SMPK-Bauvorhaben) wurde im Volksmund seit 2016 als „Scheune“ bezeichnet und mit „archetypischen“, frei stehenden Gebäuden großer Discounterketten verglichen (s. Collage). Diese verbale Verballhornung des geplanten Museumsgebäudes wurde einerseits durch die schlichte Giebelform - von Unwissenden nicht sogleich als „Tempelmotiv“ erkannt - und die großen, verschiebbaren (Scheunen-)Tore an drei Seiten des Neubaus hervorgerufen. Durch die aktuelle Überarbeitung soll das Bauprojekt nun „sozial und ökologisch noch nachhaltiger und teilhabegerechter“ werden (u.a. Wassermanagement, mehr Recyclingmaterial und eine Photovoltaikanlage auf dem Dach), kurz: mehr Grün/Verwaldung um den Bau inklusive Biergarten. Ticketfreie, kuratierte Angebote im Außenraum sollen die Aufenthaltsqualität steigern (die aktuell bereits bei Veranstaltungen in der großen Halle der Neuen Nationalgalerie erfolgreich praktiziert wird). Die eigentlich geplante, unterirdische Verbindung zur Neuen Nationalgalerie könnte durch eine dort verlegte, wichtige Stromtrasse schwierig werden; alternativ ist daher in diesem Übergangsbereich in der neuen Visualisierung ein Skulpturengarten mit einer „Spinne“ von Louise Bourgeois hinzugekommen; auch der vorspringende Kubus in der östlichen Glasfassade ist jetzt mit einer Arbeit von Katharina Sieverding dekoriert. Hinter dem Straßenbegleitgrün an der Potsdamer Straße und an der Ostseite können sich nun Besucher_innen auf langen Sitzbänken an das Gebäude anlehnen. Hier nehmen Herzog & de Meuron ein Motiv des von ihnen realisierten Parrish Art Museums in Water Mill/Long Island auf (s. Abb.). Sie haben sich dabei an ortstypischen, langen Kartoffelscheunen orientiert, die teilweise in die Erde eingegraben sind und Erdaufschüttungen an den Längsseiten der Lagerhallen vermindern das Auskühlen des Innenraums. Der seitliche Eingang ist auch beim Parrish Art Museum bereits kleiner ausgeführt und es wurde auf überdimensionale Schiebetore verzichtet.
Die verführerische, aber realitätsferne Kernaussage des Wettbewerbsgewinners – zwei sich kreuzende, öffentliche Wege/Boulevards durch das Museumsgebäude – ist nun u.a. wegen klimatischer und sicherheitstechnischer Erfordernisse ebenfalls auf der Strecke geblieben.
© Frieder Schnock, Berlin 2023
Bauarbeiten am Kulturforum 2019
© Frieder Schnock
Bauzaun-Intro am Kulturforum 2023
© Frieder Schnock
Vor der Renovierung der Neuen Nationalgalerie
© Frieder Schnock
„Verwaldung“ der Neuen Nationalgalerie vor der Renovierung durch das Büro Chipperfield
© Frieder Schnock
Work in Progress durch das Büro Chipperfield (2016-2021)
© Frieder Schnock
Wettbewerbsausschreibung für das neue Museum neben der Neuen Nationalgalerie von Mies van der Rohe
„Gastronomisches Angebot“ am Kulturforum (inkl. skulpturale Berlinale-Werbung), 2019
© F. Schnock
Wettbewerbsgebiet 2019 (Blick in Richtung Potsdamer Platz)
© Frieder Schnock
Bauzaun-Plakatierung mit dem Entwurf des Wettbewerbsgewinners Herzog & de Meuron
© Frieder Schnock
Collage auf Bauzaun-Plakatierung mit dem siegreichen Entwurf von Herzog & de Meuron
© Frieder Schnock
Baubeginn 2021 (im Hintergrund das Kunstgewerbemuseum und der Kammermusiksaal)
© Frieder Schnock
Baugrube im April 2023 (Blick zu Neuen Nationalgalerie)
© Frieder Schnock
Beschilderung der Baustelle, April 2023
© Frieder Schnock
Bauzaun-Info zum Entwurf von Herzog & de Meuron aus dem Jahr 2021
© Frieder Schnock, Berlin 2023
Sigismundstraße zwischen Baustelle und Neuer Nationalgalerie, April 2023
© Frieder Schnock
Vorstellung der neuen Entwürfe für „berlin modern“ am 18.4.2023 (neuer seitlicher West-Eingang und Skulpturengarten auf der früheren Sigismundstraße)
© Herzog & de Meuron Basel Ltd., Basel, Schweiz mit Vogt Landschaftsarchitekten AG, Zürich/Berlin
Eingang in das Parrish Art Museum auf Long Island (vom Architekturbüro Herzog & de Meuron)
© Frieder Schnock
Eingangssituation Parrish Art Museum, Water Mill / Long Island, NY
© Frieder Schnock
Seitenansicht, Parrish Art Museum 2023
© Frieder Schnock
Überdachte Sitzbank aus Beton an der Längsseite des Parrish Art Museums, 2023
© Frieder Schnock
Entwürfe für die Nordseite, 2021 und 2023
© Herzog & de Meuron Basel Ltd., Basel, Schweiz mit Vogt Landschaftsarchitekten AG, Zürich/Berlin
Ost-West-Achse im Untergeschoss der Neuen Nationalgalerie, 2021 (nach der Renovierung und vor der ersten Ausstellung)
Text & Fotos
© Frieder Schnock, Berlin - VG Bild-Kunst Bonn/Berlin - ARS / New York City
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